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Beitrag vom 29.03.2022
Das Ereignis. Kinostart 31.03.2022. Digitale Live-Podiumsdiskussion am 31.03.2022 mit Kristina Hänel, Dörte Frank-Boegner und Dr. Leonie Steinl
Helga Egetenmeier
Fast sechzig Jahre ist "Das Ereignis", eine ungewollte Schwangerschaft, vorbei, die Regisseurin Audrey Diwan entlang des autobiographischen Romans der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux in ihrem Spielfilm thematisiert. Doch die Diskussion um Abtreibungen ist bis heute...
...weltweit aktuell. So verwehrt in Deutschland heute die nationale Gesetzgebung durch ihre strafrechtlichen Regelungen Frauen weit mehr eine selbstbestimmte Entscheidung, als in Frankreich.
Der Kampf um Selbstbestimmung über Körper und Leben
Der in Venedig mit einem Goldenen Löwen ausgezeichnete Film erzählt die Geschichte einer Abtreibung, die die Autorin im Jahr 2000 veröffentlichte. Die Autorin geht darin in den Sommer 1963 zurück und beschreibt, wie die französische Studentin Anne um ihre Zukunft kämpft. Sie liebt ihr Literaturstudium, wohnt im Studentinnenwohnheim und wird von ihren Eltern, die ein kleines Café betreiben, mit bescheidenen Mitteln unterstützt. Wenn Anne gelegentlich mit ihren Freundinnen tanzen geht, liegt der Wunsch nach Intimität in der Luft. Doch die Studentinnen wissen, Sex kommt für sie nicht in Frage, denn eine Schwangerschaft wäre eine Katastrophe und würde das Aus für ihr Studium und ihre Lebenspläne bedeuten.
In dem studentischen Umfeld, in dem die Geschichte spielt, ist Verhütung kein Thema, auch über sexuelle Erfahrungen wird nur heimlich gesprochen. Der Schwangerschaftsabbruch war in Frankreich bis 1975 strafbar so dass, neben dem gesundheitlichen Risiko, auch ein rechtliches bestand. Deshalb ist, als Anne ungewollt schwanger wird, nicht nur ihre Zukunft und Eigenständigkeit bedroht. Kaum jemand ist bereit, mir ihr darüber zu sprechen, oder bietet ihr Hilfe an, da auch die Unterstützung zur Abtreibung per Gesetz verboten ist. Bei der Suche nach einem Ausweg wird sie deshalb immer weiter in die Isolation gedrängt. Die Kamerabilder spiegeln ihre subjektiven Erfahrungen, indem sie immer nah an ihrer Protagonistin bleiben, und ihr dabei entweder über die Schulter schauen, oder ins Gesicht blicken.
Anamaria Vartolomei spielt beeindruckend diese ruhige junge Frau, die zunehmend in stiller Verzweiflung verstummt und ihr geliebtes Studium vernachlässigt. Denn die Wochen vergehen, ohne dass sie einen Ausweg findet. Als sie doch noch Hilfe erhält, benötigt sie dazu Geld und auch den Mut, ihr Leben zu wagen. Wie viel die patriarchale Gesetzgebung, und wie wenig die männliche Lebenswelt mit den Kämpfen von Frauen um ihre Arbeitschancen zu tun hat, bringt ein Dialog zwischen Anne und ihrem Literaturprofessor auf den Punkt. Als dieser sie nach ihrer Abwesenheit fragt, erklärt Anne ihm knapp, sie hatte "Die Krankheit, die nur Frauen betrifft. Und die sie zu Hausfrauen macht."
Schwangerschaftsabbruch und sexuelle Selbstbestimmung
In Frankreich wurde 1975 mit der Verabschiedung des "Loi Veil", unter der damaligen Gesundheitsministerin Simone Veil, die Abtreibung entkriminalisiert. Dies erfolgte nach einer breiten öffentlichen Debatte, die durch ein Manifest eröffnet wurde, in dem sich 343 Französinnen im April 1971 zu ihrer Abtreibung bekannten. Heute ist in Frankreich die Behinderung eines Schwangerschaftsabbruchs, etwa durch Fehlinformation, strafbar. Und seit Anfang 2022 werden die Kosten für die Anti-Baby-Pille für Frauen unter 25 Jahren von der Krankenkasse übernommen.
In Deutschland sind Schwangerschaftsabbrüche zwar straffrei, jedoch weiterhin durch das Strafgesetzbuch kriminalisiert, wie Sabina Everts in ihrem Beitrag "150 Jahre §218 und §219, 150 Jahre zu viel" bei AVIVA-Berlin verdeutlicht. Sie geht darin auch auf das Urteil gegen die Ärztin Kristina Hänel ein, die im November 2017 vom Amtsgericht Gießen wegen des Verstoßes gegen den §219a StGB (Werbens für den Abbruch einer Schwangerschaft) verurteilt wurde. Auch nach einem langen Rechtsstreit, wurde die Verurteilung nicht aufgehoben.
Bis heute werden Ärzt*innen, die öffentlich über Methoden des Schwangerschaftsabbruches informieren durch den §219a StGB kriminalisiert. Im März 2022 beschloss die Bundesregierung mit einem Gesetzentwurf dessen Streichung, der nun von Bundestag und Bundesrat beraten wird. Wie der Deutsche Juristinnenbund in ihrer Stellungnahme vom 15.02.2022 dazu anmerkt, werde dies "jedoch nicht automatisch zu einer zufriedenstellenden Informationslage für ungewollt schwangere Personen führen." Es brauche eine aktive Verbesserung durch weitere Maßnahmen, wie auch eine Überprüfung der Rehabilitierung von bereits verurteilten Ärzt*innen.
Im Koalitionsvertrag, der über die Legislaturperiode 2021-2025 reicht, ist eine Prüfung der Streichung von §218 aus dem Strafgesetzbuch angekündigt. Dazu ist die Einrichtung einer Expert*innen-Kommission vorgesehen, deren Besetzung noch nicht geklärt ist, so das Gunda Werner Institut im Dezember 2021.
AVIVA-Tipp: Kompromisslos subjektiv zeigt die Regisseurin, wie die patriarchale Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch Frauen diskriminiert, indem sie ihnen die Selbstbestimmung verweigert. Die Kamera begleitet dazu die schwangere Protagonistin durch ihre Zeit der Einsamkeit und der Angst um ihr Leben,wie ein freundlicher Schatten, ohne aufdringlich zu sein. Der Film ist damit ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Debatte um die Streichung der Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen aus dem deutschen Strafgesetzbuch.
Digitale Live-Podiumsdiskussion am 31. März 2022:
Mehrere Programmkinos bieten am 31. März, nach der Hauptvorstellung gegen 21.30 Uhr, die Übertragung einer digitalen Live-Podiumsdiskussion an. Über eine dafür eingerichtete SMS- und WhatsApp-Nummer können Fragen direkt aus dem Kino an das Podium gestellt werden. Vertreten sind dort, für den Bereich Medizin die Ärztin für Allgemeinmedizin Kristina Hänel, die im Sinne des § 219a StGB für eine angebliche Werbung für den Schwangerschaftsabbruch angeklagt und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Den Bereich Familienberatung vertritt Dörte Frank-Boegner, Vorsitzende des pro familia Bundesverbandes, und für die Rechtswissenschaften dabei ist Dr. Leonie Steinl, LL.M., Vorsitzende der Kommission Strafrecht des Deutschen Juristinnenbundes. Moderiert wird die Veranstaltung von Lena Kettner, Marketing Managerin bei Prokino und Kulturbloggerin.
Auszeichnungen und Preise
2021: Filmfestspiele Venedig, Goldener Löwe Bester Film, FIPRESCI Award
2022: Prix de Lumières Bester Film, Beste Darstellerin Anamaria Vartolomei
2022: Nationaler Filmpreis Frankreich: César Beste Nachwuchsdarstellerin Anamaria Vartolomei
Zur Regisseurin: Audrey Diwan, geboren 1980 in ?, ist französische Filmregisseurin, Drehbuchautorin, Journalistin und Verlegerin mit libanesischer Herkunft und lebt in Paris. Sie arbeitete für die Frauenzeitschriften Technikart, Glamour und Stylist, verfasste eine Kolumne für Paris Première, schrieb Romane und arbeitete als Verlegerin bei Denoel. "Das Ereignis" ist ihr zweiter Spielfilm, für den sie, gemeinsam mit Marcia Romano, das Drehbuch verfasste.
Zur Hauptdarstellerin: Anamaria Vartolomei, geboren 1999, lebt als rumänische Schauspielerin in Paris und gab ihr Schauspielerinnendebüt als Kinderdarstellerin in dem Film "I´m Not a F**king Princess" in der Titelrolle, an der Seite von Isabelle Huppert. Sie spielte danach u.a. 2014 in "Jacky im Königreich der Frauen" und 2017 in "Ein königlicher Tausch". 2022 gewann sie für ihre Darstellung der Anne in "Das Ereignis" den Prix Lumiére als beste Darstellerin, sowie den César als Beste Nachwuchsdarstellerin.
Zur Autorin der Romanvorlage: Annie Ernaux, wurde 1940 in der Normandie geboren und studierte in Rouen und Bordeaux. Danach arbeitete sie als Gymnasiallehrerin. Ernaux bezeichnet sich als Ethnologin ihrer selbst. 1974 erschien ihr erster autobiographischer Roman "Les Armoires vides". 1983 schrieb sie "La Place", ein Buch über ihren Vater, das 2019 neu übersetzt als "Der Platz" auf Deutsch erschien. Sie erhielt 1984 für "La Place" den Prix Renaudot und 2008 den Prix de la langue francaise für ihr Gesamtwerk. In "Mémoire de fille" (2016, dt. 2018 unter dem Titel "Erinnerung eines Mädchens") schildert Ernaux die Vergewaltigung durch einen Betreuer in einem Ferienlager und die daraus resultierende lebenslange Scham. Für "Les Années" (2008, dt. "Die Jahre", 2017) erhielt sie mehrere Preise. Annie Ernaux gilt als eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen, deren Werke vielfach ausgezeichnet wurden, zuletzt mit dem Prix de l´Académie de Berlin 2019. Ihr Buch "Das Ereignis", die Romanvorlage für den Film, erschien im Jahr 2000 in Frankreich und im September 2021 in Deutschland.
www.annie-ernaux.org
Das Ereignis
Originaltitel: L´Évènement
Frankreich 2021
Regie: Audrey Diwan
Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romano
nach dem Buch von Annie Ernaux
DarstellerInnen: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luà na Bajrami, u.a.
Verleih: Prokino
Lauflänge: 100 Minuten
Kinostart: 31.03.2022
Mehr zum Film und der Trailer unter: www.dasereignis-derfilm.de
Weitere Informationen:
Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung
pro familia - Zugang zum Schwangerschaftsabbruch
Familienplanungszentrum Balance
Feministisches FrauenGesundheitsZentrum e.V.
Weg mit § 218
Pro Choice - Keine Kompromisse: §219a muss weg!
Solidarität mit Kristina Hänel und allen anderen nach §219a StGB verurteilten Ärzt*innen
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
150 Jahre §218 und §219, 150 Jahre zu viel
Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung rief am 15.5.2021 zu bundesweiten Protesten auf. Zweiter Aktionstag am 18.9.2021. Fachkongress "150 Jahre § 218 Strafgesetzbuch" der Überparteilichen Fraueninitiative Berlin - Stadt der Frauen e.V. Ende August in Berlin und in Online-Formaten. AVIVA-Berlin informiert über die 150-jährige Geschichte des Widerstands gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. AVIVA-Berlin fordert mit allen teilnehmenden Organisationen die ersatzlose Streichung aus dem Strafgesetzbuch! (2021)
Annie Ernaux – Eine Frau
In ihren (auto-)biographischen Erkundungen nähert sich die französische Schriftstellerin und Zeitzeugin Annie Ernaux ("Die Jahre") in "Eine Frau" dem Leben ihrer Mutter und den Entfremdungen, die ein gesellschaftlicher Statuswechsel in eine Beziehung bringen kann. Ausgezeichnet u.a. mit dem Prix de l´Académie de Berlin 2019. (2020)
Kristina Hänel - Das Politische ist persönlich. Tagebuch einer »Abtreibungsärztin«
Kristina Hänel dokumentiert in ihrem Tagebuch, wie die Anklage gemäß §219a StGB sie dazu brachte, der frauenfeindlichen und veralteten Gesetzgebung den Kampf anzusagen. Sie ging an die Öffentlichkeit und trägt mit ihrem Buch einen wesentlichen Teil zur Diskussion um das Recht auf Information und auf Selbstbestimmung bei. (2019)
Für die Streichung von § 219a StGB. LandesFrauenRat Berlin e.V. lädt am 18. November 2019 ein zum Gespräch mit Lisa Wernicke, Medical Students for Choice. Margherita von Brentano Preisverleihung am 15. November 2019
Chronik einer frauenfeindlichen Gesetzgebung im 21. Jahrhundert und Verurteilung zweier Ärztinnen am 14. Juni 2019: Das Eckpunktepapier zur "Verbesserung der Information und Versorgung in Schwangerschaftskonflikten" der Bundesregierung ist ein Schlag ins Gesicht aller Frauen. Die Ärztin Kristina Hänel hatte auf ihrer Webseite über einen legalen Schwangerschaftsabbruch informiert. Laut §219a StGB wird das als "Werbung" gehandelt. Hintergründe und Stimmen zum Urteil zur Reform des Paragraphen 219a gegen die Frauen und gegen die Gynäkologinnen Dr. Kristina Hänel, Dr. Bettina Gaber und Dr. Verena Weyer. (2018)
Skandalurteil. Kristina Hänel verurteilt - Kampagne für ein Informationsrecht für Frauen zum Thema Schwangerschaftsabbruch auf Change.org unterstützen
Die Ärztin ermöglicht es Interessierten auf ihrer Webseite über einen Link, Informationen zu einem legalen Schwangerschaftsabbruch zu erhalten. Laut §219a StGB ist das verboten. Auf dieser Basis wurde Kristina Hänel von Abtreibungsgegner*innen angezeigt, von der Staatsanwaltschaft angeklagt und am 24. November 2017 vom Amtsgericht Gießen zu 40 Tagessätzen à 150 € verurteilt. Das nimmt sie so nicht hin. Nächster Stopp: Revision am Landgericht Gießen. (2017)
Schweigen ist Silber, Reden ist Gold Wendy Davis verhindert ein strengeres Abtreibungsgesetz
Als "pro-life" bezeichnen sich die US-amerikanische Abtreibungsgegner_innen, die gegen die Selbstbestimmung von Frauen über ihren eigenen Körper kämpfen. Ihnen hat die demokratische Abgeordnete Paroli geboten, als sie stundenlang – ohne zu trinken oder sich hinzusetzen – vor dem Senat von Texas sprach und damit eine rechtzeitige Abstimmung zu "Senate Bill 5" verhinderte.